Erinnerungen
Dix verfasste den Erinnerungsbericht auf Bitten des Kulturamtes seiner Vaterstadt für den Katalog zu einer Einzelausstellung anlässlich seines 75. Geburtstages 1966.
[Quelle: Ausstellungskatalog Otto Dix. Zum 75. Geburtstag, Gera 1966, o. S.]
Erinnerungen an Kindheit und Jugend in Gera, 1966

Es ist schwierig für mich, nach 70 Jahren noch Vergangenes zu beschreiben, auch habe ich eigentlich das Gefühl, daß es niemand interessiert und daß alles zu prätentiös aussieht. Der Strom des Vergessenen deckt alles zu. Nur als kleine Inseln tauchen unzusammenhängende Erinnerungen auf. Ich bin am 2. Dezember 1891, nachts um 1.30 Uhr in dem Hause neben der alten gotischen Kirche in Untermhaus geboren. Der erste Eindruck meines Lebens war folgender: Ich lag in einem dunklen Raum. Es war sehr kalt. Eine große, volle Lichterscheinung sah ich und hörte die dunklen, dröhnenden Klänge einer Orgel. Wir wohnten später im Hause meines Onkels Rudolf Amann. Ich hatte eine Kinderwärterin (wahrscheinlich, weil meine Mutter in der Porzellanfabrik arbeitete). Es war ein rotblondes, üppiges Mädchen und zum ersten Male packte mich das Erstaunen darüber, was Mädchen doch für einen dicken Hintern haben. Der Onkel hatte einen Laden, wo es nach Petroleum, Kaffee, sauren Gurken und allem Möglichen roch. Überhaupt waren Geruchsempfindungen das Bedeutendste meiner Erinnerungen. Die Häuser der Heinrichstraße hatten zum Teil Hinterhäuser und Durchgänge nach der Fabrikgasse. Beim Bäcker, der warme Geruch von frischem Brot, auf dem Hofe, der Geruch der Schweineställe und im Hinterhaus roch es nach dumpfer Kleidung. Wenn eine Abteilung Soldaten vorbeizog, folgte ihnen eine Wolke von Gerüchen nach, Eisen, Leder und Schweiß...